Warum technologischer Fortschritt nicht neutral ist
Wenn in unseren Medien über das neueste iPhone, ein autonomes Fahrzeug oder einen „smarten“ Kühlschrank berichtet wird, schwankt die Berichterstattung meist zwischen überschwänglicher Begeisterung und flüchtigen Bedenken in Bezug auf den Datenschutz. Ganz allgemein wird technologischer Fortschritt als gut, notwendig und überdies als unausweichlich angesehen. Es gibt nur eine Richtung und die lautet vorwärts. Es heißt technologische Innovationen bringen uns Freiheit und Wohlstand und haben das beispiellose Wachstum des Kapitalismus erst ermöglicht. Und ist das Streben nach Fortschritt nicht ohnehin schon irgendwie in der menschlichen DNA angelegt?
Technologischer Determinismus
So oder so ähnlich lautet die dominierende Erzählung über Innovationen. Ein starkes Narrativ, das sich lohnt einmal genauer betrachtet zu werden. Wenn wir diese Erzählung in ihre Bestandteile zerlegen, entpuppt sich unser Technologieverständnis schnell als deterministisch. Damit ist in diesem Fall die Annahme gemeint, dass technische Erfindungen soziale, politische und kulturelle Anpassungen hervorrufen und gesellschaftlichen Wandel zur Folge haben. Auch wenn dieser Ansatz in den Sozialwissenschaften längst als überholt gilt, hält sich die deterministische Rhetorik in den Medien wacker. Der Technologieforscher Jathan Sadowski schreibt dazu: „Die Menschen davon zu überzeugen, dass die Gegenwart nur auf eine Weise existieren und die Zukunft sich nur auf eine Weise entfalten kann, ist eine mächtige Taktik. Natürlich ist es nur ein Zufall, dass dieser eine Weg zufällig mit den Werten und Visionen von technopolitischen Oligarchen wie Großunternehmen und Risikokapitalgebern übereinstimmt. Technischer Determinismus wird leicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Er streicht menschliches Handeln aus der Gleichung und warnt die Menschen gleichzeitig, dass sie besser zur Seite treten, mitmachen, oder vom unaufhaltsamen Marsch des Fortschritts überrollt werden“.[1]
Doch mit diesem Verständnis werden Technologie und Innovationen ihrer sozialen Dimension beraubt. Keine Technologie ist unausweichlich und Fortschritt ist keine lineare Leiter, die die Menschheit konstant gen Technik-Himmel erklimmt. Fortschritt ist vielmehr eine Straße mit unendlichen Abzweigungen. Es geht nicht darum sie rückwärts zu fahren, sondern gemeinsam zu entscheiden welche Ausfahrt wir nehmen. Technologie ist deshalb ein soziales Phänomen, das aus den kulturellen Normen, politischen Entscheidungen und dem Wirtschaftssystem einer Gesellschaft resultiert.[2] Auch in unserer heutigen Welt sind Innovationen in unsere sozialen Strukturen eingebettet. Technologischer Fortschritt ist in letzter Instanz rund um den heiligen Gral des Profits organisiert. Häufig hört man, dass der Kapitalismus unzählige Erfindungen erst ermöglicht und damit die Menschen auf die Spur des Fortschritts gebracht hätte. Da ist natürlich etwas dran. Schon Karl Marx identifizierte die kontinuierliche technologische Erneuerung als zentrales Element des Kapitalismus.
Kapitalismus als Innovationstreiber
Nehmen wir einmal an, ich wäre Eigentümer eines Autozulieferbetriebs. In meiner Firma werden Kolbensysteme für Otto- und Dieselmotoren in PKW produziert. Meine Kolben konkurrieren natürlich nicht nur qualitativ, sondern auch preislich mit unzähligen anderen Anbietern, die die Automobilhersteller beliefern. Als Produzent versuche ich nun sowohl mein Produkt als auch meinen Produktionsprozess kontinuierlich zu optimieren. Gelingt mir dies, verschafft es mir gegenüber meiner Konkurrenz einen wichtigen Wettbewerbsvorteil, denn als Produzent einer bestimmten Ware ermöglichen mir technologische Fortschritte eine Steigerung meiner Produktivität beziehungsweise der Produktivität meiner Arbeiter. Ich kann nun womöglich Arbeitskräfte reduzieren oder mehr Ware in derselben Zeit herstellen und meine Ware günstiger als alle anderen Anbieter verkaufen. Firmen werden in ihrem Handeln deshalb von diesem Extraprofit, dem sogenannten relativen Mehrwert, angetrieben. Das bringt nicht nur Vorteile für das produzierende Unternehmen, sondern auch für die Gesellschaft, die nun die Ware zu einem günstigeren Preis kaufen kann. Doch Marx geht mit seinen „Zwangsgesetzen der Konkurrenz“ noch weiter und bezeichnet technologischen Wandel als einen Imperativ des Kapitalismus[3]. Wer sich als Produzent nicht um technologischen Fortschritt bemüht, wird über kurz oder lang letztendlich aus dem Geschäft gedrängt. Außer bei einer Monopolbildung geht diese Dynamik immer weiter und wird immer schneller.
Innovation und Wettbewerb zwischen Staaten
Diese beschriebene Dynamik stimmt natürlich auch heute noch, allerdings greift sie für viele Erfindungen des vergangenen Jahrhunderts zu kurz, denn im Wettbewerb um Macht und Wohlstand spielen auch Staaten eine zentrale Rolle. Staaten fördern technologische Fortschritte in bestimmten Bereichen, um einen Vorteil gegenüber anderen Staaten zu erhalten. Besonders offensichtlich sind in diesem Sinne natürlich militärische Forschung und Entwicklung, denn in einem Krieg gewinnt meist das Land mit der besten Technologie. Die Liste der daraus entstammenden Innovationen ist lang und reicht von Digitalkameras, die ihren Ursprung in Spionagesatelliten haben, bis zum Krankenwagen, der ursprünglich dem Abtransport verwundeter Soldaten diente. Allein auf den Zweiten Weltkrieg lassen sich neben der Nuklearenergie auch Walkie-Talkies, die Mikrowelle, die Radartechnologie, das Klebeband, meteorologische Wettervorhersagen, Computer und zahlreiche medizinische Techniken, darunter Bluttransfusionen und das Antibiotikum Penicillin, zurückführen[4]. Doch die Konkurrenz zwischen den Staaten ist nicht nur auf das Militär beschränkt. Innovationen wie moderne Sneakersohlen, kratzfeste Brillengläser, feuerbeständige Kleidung, oder die elektronische Flugzeugsteuerung waren zentrale Entwicklungen im Vorfeld der Mondlandung[5]. Heute investieren Staaten massiv in die Grundlagenforschung von High-Tech und Medizin. Auch die Pharmaindustrie lebt in besonderem Maße von den Geldern, die ihr von den Staaten zugeführt werden. So wäre ohne staatliche Subventionen die Covid-19-Impfung wohl nicht mit der gleichen Geschwindigkeit entwickelt worden.
In diesem Rahmen zeigt die italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato am Beispiel des iPhones auf, dass alle Technologien, die ein Smartphone tatsächlich „smart“ machen, staatlich finanziert wurden und auf staatlicher Grundlagenforschung basieren. Für das Smartphone betrifft dies etwa Technologien wie das Internet, GPS, das Touchscreen-Display, leistungsstarke Lithium-Ionen-Batterien, das Handynetz, Mikroprozessoren oder die Sprachsteuerung Siri[6]. Mazzucatos Ausführungen stehen in einem krassen Widerspruch zu unserer allgemeinen Vorstellung von Innovation: Da gibt es einerseits so risikofreudige Visionäre wie Bill Gates, Steve Jobs, Elon Musk oder Tausende mutiger und innovativer Start-ups, und andererseits den bürokratischen und behäbigen Staat. Dieses Argument dient vielfach auch zur Legitimation sozialer Ungleichheit. Richard Koo, der Chefvolkswirt des japanischen Wirtschaftsforschungs- und Beratungsunternehmens Nomura Research Institute, argumentiert beispielsweise, man brauche „ein Ökosystem sehr erfolgreicher Personen, die neuen Start-ups helfen“. Mit anderen Worten: Extremer Reichtum ist gut für den Fortschritt und schaffe letztendlich Wohlstand, der der gesamten Gesellschaft zugutekomme[7]. Doch Mazzucato bezeichnet dies als „Mythos der Innovation“, denn für all diese Erfindungen brauchte es langfristige Investitionen. Normalerweise stellten Investoren Risikokapital jedoch nur für kurzfristige Zeiträume von drei bis fünf Jahren zur Verfügung.
Wir sehen also, dass auch durch die Konkurrenz zwischen Staaten technologische Fortschritte gezielt gefördert werden. David Harvey bezeichnet das Staatensystem Europas gar als Geburtsstätte des Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen. Für Staaten ist technologischer Fortschritt auch jenseits des Militärs sehr wichtig, denn er sichert das relative Wohlergehen der Bevölkerung[8]. Ein armer Staat kann da natürlich nicht mithalten, weshalb Ungleichheiten zwischen den Staaten langfristig immer weiter ausgebaut und verfestigt werden.
Demokratisierung der Innovation
Ob nun „Ökosysteme erfolgreicher Menschen“ oder der Finanzmarkt. Ich habe in diesem Beitrag ein bisschen ausgeholt und versucht darzustellen, dass Kapital ein wesentlicher Hebel für den technologischen Fortschritt ist. Die Ungleichheit bei der Einbindung in den Innovationsprozess ist jedoch nicht nur auf ein Wohlstandsgefälle beschränkt. Studien zeigen, dass Finanzmittel für Innovationen auch nach Merkmalen wie Geschlecht oder Hautfarbe vergeben werden[9],[10]. Diese Diskriminierung beeinflusst letztendlich auch, wem die neuen Technologien später zugutekommen[11]. Dies wird beispielsweise am rassistischen Bias vieler Systeme der künstlichen Intelligenz deutlich. Einige mächtige Investoren haben damit also die Macht, über die Zukunft von Gesellschaften wesentlich mitzubestimmen. Damit spiegelt „wünschenswerte Technologie“ immer auch die Interessen einiger weniger wider.
Jathan Sadowski zeigt zum Beispiel auf, dass elektronische Tools wie Smartphones und die darauf installierten Apps nicht auf das Wohlbefinden der Nutzerinnen und Nutzer ausgerichtet sind, sondern Profit und die Extraktion von Daten maximieren[12]. Ähnlich argumentiert auch Tristan Harris, ehemaliger Mitarbeiter von Google und Gründer des Center for Humane Technology. Er bezeichnet die rund um das Smartphone organisierten Sozialen Medien als eine Aufmerksamkeitsökonomie, die Folgen wie Internetsucht, psychische Probleme, Fehlinformationen, politischen Extremismus und politische Polarisierung hervorruft[13]. Eine kleine Elite besitzt somit nicht nur extreme ökonomische Macht, sondern auch die Kontrolle über unser Verhalten. Das ist hochgradig undemokratisch. Oder, um es mit den Worten des langjährigen britischen Abgeordneten des House of Commons Tony Benn zu sagen, „wenn Sie die Leute, die Sie regieren, nicht loswerden können, leben Sie nicht in einem demokratischen System“[14].
Allerdings sucht Risikokapital natürlich vor allem kurzfristige Gewinne. Langfristige Investitionen hängen indes von staatlichem Engagement ab. In seiner heutigen Form stellt dies ein Problem dar, denn während Gewinne privatisiert werden, werden die (ökonomischen) Risiken meist sozialisiert. So finanzieren die Steuerzahler beispielsweise die Entwicklung eines Medikaments (und tragen die Risiken der Investitionen), für das sie später zur Kasse gebeten werden. Doch gleichzeitig liegen in diesem Punkt auch enorme Chancen, denn anders als Investoren und Risikokapitalgeber wird die Regierung vom Volk gewählt, ist also demokratisch legitimiert. Auch ist vor diesem Hintergrund die Annahme, dass staatliche Regulierung Innovationen und Fortschritt hemmt, nicht tragbar. Der globale Wettbewerb zwischen den Staaten sorgt allerdings dafür, dass das Nord-Süd-Gefälle zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden unberücksichtigt bleibt. Einerseits haben ärmere Staaten also keine Mittel, um technologischen Fortschritt zu finanzieren. Andererseits basiert der technologische Fortschritt reicher Länder in hohem Maße auf Rohstoffen ärmerer Länder. In meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit beschäftige ich mich meist mit den sozialen und ökologischen Folgen des Rohstoffabbaus im Rahmen neuer Technologien.
Wie wir sehen, können Innovationen jeglicher Art also niemals neutral sein. Technologie ist, wie auch Natur, grundlegend politisch und entsprechend den Interessen des Globalen Nordens beziehungsweise ökonomisch einflussreicher Eliten organisiert. Medial dominieren deterministische Vorstellungen über Technologie und Fortschritt. Ebendiese sind für unsere Gesellschaft jedoch problematisch, da sie den Raum für gesellschaftliche Diskussionen über wünschenswerte Innovationen und eine wünschenswerte Zukunft schrumpfen lassen. Deshalb müssen wir dringend die Kontrolle über den Innovationsprozess übernehmen und Innovationen als Unterfangen sehen, das allen Menschen zugutekommen sollte.
[1] Jathan Sadowski, Too Smart. How digital capitalism is extracting data, controlling our lives, and taking over the world, Cambridge, Massachusetts 2020, S. 14 eigene Übersetzung.
[2] Ebd.
[3] David Harvey, Technological Dynamism. Podcast 2022, http://davidharvey.org/2022/01/new-podcast-david-harveys-anti-capitalist-chronicles/ (Zugriff: 27.03.2022).
[4] Kristen D. Burton, The Scientific and Technological Advances of World War II, New Orleans, https://www.nationalww2museum.org/war/articles/scientific-and-technological-advances-world-war-ii (Zugriff: 02.04.2022).
[5] Stern, 50 Jahre Mondlandung. Elf Technologien, die heute jeder kennt, Hamburg, https://www.stern.de/lifestyle/leute/50-jahre-mondlandung--elf-technologien--die-heute-jeder-kennt-8809218.html (Zugriff: 02.04.2022).
[6] Mariana Mazzucato, The Entrepreneurial State: Debunking Public vs. Private Sector Myths, New York 2015.
[7] Richard Koo, Ungleichheit ist nicht gleich Ungleichheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 3. 2022.
[8] Harvey (Anm. 3).
[9] Candida Brush et al., The gender gap in venture capital- progress, problems, and perspectives, in: Venture Capital 2/2018, S. 115–136.
[10] Sarah Myers West/Meredith Whittaker/Kate Crawford, Discriminating Systems. Gender, Race, and Power in AI, New York 2019, https://ainowinstitute.org/discriminatingsystems.pdf (Stand: 2019) (Zugriff: 04.04.2022).
[11] Sadowski (Anm. 1).
[12] Dass., When data is capital: Datafication, accumulation, and extraction, in: Big Data & Society 1/2019, S. 1–12.
[13] Center for Humane Technology, Together we're working to catalyze a more humane future, https://www.humanetech.com/ (Zugriff: 02.04.2022).
[14] Übersetztes Zitat von Benn aus seiner letzten Rede im House of Commons: https://publications.parliament.uk/pa/cm200001/cmhansrd/vo010322/debtext/10322-13.htm (Zugriff: 04.04.2022)