Der große BIP-Irrtum. Warum das BIP ein Instrument des Krieges war
Es gibt wohl keine Zahl, die die Politik annähernd so stark beeinflusst wie das Bruttoinlandsprodukt. Seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts wird das Bruttoinlandsprodukt oder auch BIP dazu verwendet den Zustand der Gesellschaft zu messen. Ein steigendes BIP ist gut. Es zeigt, dass die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt und der Wohlstand steigt. In der Einfachheit der Zahl liegt die Kraft des BIP[1]. In meinem Grundstudium der Wirtschaftswissenschaften lernten wir in einem der Einführungskurse, dass das BIP die Summe aller Waren und Dienstleistungen misst, die in einem Land hergestellt werden. Es ist also ein Maß für die Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft. Es aggregiert die Produktionsleistung beziehungsweise die Einkommen eines Landes. Wenn man das BIP also durch die Menschen eines Landes teilt, erhält man das Pro-Kopf-BIP, das heute als wichtiger Wohlstandsindikator gilt.
Was wir in der Einführungsvorlesung nicht lernten, sind die Schwächen des BIP. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass kritische Beiträge heute gar bis in wirtschaftsliberale Medien wie Handelsblatt[2] und Capital[3] vorgedrungen sind. Gerade in Zeiten von Klimawandel und ökologischem Kollaps werden die Kritiken am BIP zunehmend lauter. Doch es geht nicht nur darum, dass ein steigendes BIP immer auch einen steigenden Material- und Energieverbrauch. Tatsächlich sind die Schwächen viel grundlegender.
Was das BIP nicht misst
Auch wenn wir uns oft nicht bewusst sind, was das BIP eigentlich abbildet, wird uns oft suggeriert, dass ein steigendes BIP gut sei. Es entspricht im Großen und Ganzen unserer Vorstellung, dass sich die Menschheit schon irgendwie weiterentwickle, es also eine Art Fortschritt gäbe. Doch wenn wir unser gesamtes gesellschaftliches Handeln auf das Wachstum einer bestimmten Zahl ausrichten, bedeutet das auch, dass wir andere Aspekte als weniger wichtig bewerten, die in dieser Zahl nicht abgebildet werden. Ja mehr noch, wir ordnen andere Aspekte dem BIP-Wachstum unter. Was verbirgt sich also eigentlich hinter dieser vermeintlich objektiven Zahl? Das BIP als Maß für den Wert der Produktion eines Jahres misst per se nur die monetäre Produktion und Dienstleistungen.
Ein paar Beispiele: Wenn es vor der Küste Brasiliens zu einem Tankerunglück kommt und eine Firma mit der Bekämpfung der Ölpest beauftragt wird, dann steigt das BIP. Wenn ich mein Auto regelmäßig kaputtfahre, Ersatzteile benötige und eine Werkstatt aufsuche, dann steigt das BIP. Wenn meine Stadt hingegen so fahrradfreundlich gebaut ist, dass ich gar kein Auto besitze, dann sinkt das BIP. Wenn ich jemanden einstelle, um meine Hemden zu bügeln, steigt das BIP. Wenn ich weniger arbeite, um mich selbst darum zu kümmern, sinkt es. Wenn ich mich so stark überarbeite, dass ich abends maximal noch mein Netflix-Konto einschalte und bei Lieferando bestelle, ich deshalb von Schlafstörungen und Depressionen geplagt werde und regelmäßig auf Schlaftabletten und Antidepressiva zurückgreife, dann steigt das BIP. Wenn ich weniger arbeite, um mein Gemüse selbst anzubauen, selbst zu kochen und abends einen langen Spaziergang mache, dann sinkt das BIP.
(Ökologische) Kritik am BIP
Klingt das nach einem sinnvollen Maßstab für unser gesellschaftliches Wohlbefinden? Die Beispiele illustrieren, dass das Bruttoinlandsprodukt ausschließlich monetäre Werte erfassen kann. Wenn ich Dinge selber erledigen kann, sinkt das BIP. Wenn ich Firmen damit beauftrage, Dinge für mich zu tun, dann steigt es. Das BIP ist also blind, ob sich eine Aktivität konstruktiv oder destruktiv auswirkt. Die suggerierte Objektivität dieser Zahl ist somit hochgefährlich. Besonders problematisch fällt dies angesichts von Klimawandel, Biodiversitätsverlust und einem drohenden ökologischen Kollaps ins Gewicht. Bei sauberer Luft, fischreichen sauberen Ozeanen und intakten Wäldern handelt es sich um Gemeingüter, sogenannte Commons. Wir alle profitieren von sauberer Luft und ausreichend Sauerstoff zum Atmen. Diese hat jedoch keinen Preis, weshalb ökologische Schäden im BIP nicht berücksichtigt werden. Im Gegenteil: Wenn aufgrund von Smogproblemen die Krankenhausaufenthalte steigen, wenn durch die globale Erwärmung mehr Klimaanlagen gekauft werden und wenn der Müll der jährlich steigenden Plastikproduktion billig im Meer entsorgt werden kann, dann steigt das BIP.
Dieses Abwälzen von Umweltfolgen und sozialen Folgen auf die Gesellschaft oder auf zukünftige Generationen bezeichnen wir als Externalisierung. So ist beispielsweise der Fleischkonsum für einen beträchtlichen Anteil globaler Treibhausgasemissionen verantwortlich, unter anderem durch direkten Methanausstoß sowie durch großflächige Rodungen für das wichtigste Futtermittel Soja. Die Fleischpreise spiegeln all dies jedoch nicht wider, stattdessen werden die Kosten auf die Allgemeinheit abgewälzt. Wohl noch drastischer äußert sich dies beim globalen Flugverkehr. Fliegen ist eine der Energie-intensivsten Konsumformen und ebenfalls ein wesentlicher Treiber für den Klimawandel. Die Kosten werden dabei zum einen über direkte Subventionen auf Kerosin gedrückt, zum anderen über die kostenlose Ablagerung von CO2-Emissionen in die Atmosphäre von der Allgemeinheit getragen. Das ist insofern drastisch, als dass mindestens 80 Prozent der globalen Bevölkerung noch nie geflogen ist. Eine Studie aus dem Jahr 2020 verdeutlicht, dass 50 Prozent der kommerziellen Flugemissionen von 1 Prozent der Bevölkerung versucht werden. Nur etwa 2-4 Prozent der Bevölkerung flog im Jahr 2018 international[4]. Diese Beispiele illustrieren, dass Klimawandel und (ökonomische) Ungleichheit miteinander verflochten sind. Der Soziologe Stephan Lessenich macht dies in seinem Buch „Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ besonders deutlich. Er zeigt, dass der Reichtum des Westens zum Großteil auf einer systematischen Externalisierung der wahren Kosten basiert. So werden beispielsweise viele unserer Abfallprodukte in ärmere Länder exportiert. Dazu zählen unsere alten Computer und Fernseher genauso wie alte Kleidungsstücke, ein Teil unseres Plastikmülls oder Nespresso Aluminium-Kapseln. Doch auch weniger offensichtliche Abfallprodukte wie CO2-Emissionen werden externalisiert, also auf die Allgemeinheit abgewälzt. Gleichzeitig sind auch die Folgen des Klimawandels in den Ländern des Globalen Südens ausgeprägter und werden dort insbesondere von marginalisierten Bevölkerungsschichten getragen[5]. In das gleiche Horn stoßen Ulrich Brand und Markus Wissen auch mit ihrem Konzept der „Imperialen Lebensweise“, das in den vergangenen Jahren sowohl in akademischen als auch aktivistischen Kreisen breite Resonanz gefunden hat[6].
Das Bruttoinlandsprodukt ist also nicht nur hinsichtlich seiner Aussagekraft zur wirtschaftlichen Leistung eines Landes begrenzt, da Tätigkeiten wie unbezahlte Hausarbeit, häusliche Pflege, Kinderbetreuung, Ehrenämter, Subsistenzwirtschaft und Schwarzarbeit keine Berücksichtigung finden. Noch limitierter ist das BIP jedoch hinsichtlich der Bemessung des gesellschaftlichen Wohlstands, da im BIP destruktive monetäre Aktivitäten positiv berücksichtigt und der Nutzen beziehungsweise Verbrauch von Gemeingütern externalisiert werden.
Das BIP als Element des Krieges
Schon im 17. Jahrhundert gab es erste Bemühungen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes zu messen. Intensiviert wurden diese Bemühungen in der Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 und dem Zweiten Weltkrieg. Einer der „Erfinder“ des BIP war Simon Kuznets, der vom US-Kongress in den 1930er Jahren mit der Messung der gesamten wirtschaftlichen Produktion von Einzelpersonen und Unternehmen beauftragt wurde[7]. Die kontinuierliche Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit war in den 1930er Jahren von großer politischer Relevanz. Damals noch Bruttosozialprodukt genannt, diente es der Messung der wirtschaftlichen Leistung zur Produktion von Waffen und Rüstung. Mit anderen Worten, es maß wie schnell ein Land in der Lage war militärisch aufzurüsten. So betont der Ökonom Philipp Lepenies in seinem Buch Die Macht der einen Zahl, dass das BIP vor allem ein Instrument des Krieges war[8].
Obwohl schon Simon Kuznets auf die Schwächen der Kennzahl hinwies und betonte, es komme auf die richtige Verteilung des wirtschaftlichen Wohlstands an, blieb das BIP auch für die Nachkriegszeit ein wichtiger Indikator. Es galt Mitteleuropa wiederaufzubauen und die amerikanischen Kriegsrückkehrer in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Vor allem aber blieb es angesichts der sowjetischen Bedrohung eine zentrale Kennzahl. So waren es auch die Vereinigten Staaten, die auf der Konferenz von Bretton Woods – auf der internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds gegründet wurden – das BIP als Standardinstrument für die Bewertung der Wirtschaft eines Landes propagierten[9]. Trotz Kuznets Kritik wurde das BIP somit schnell zum wichtigsten Indikator für das 20. Jahrhundert.
Literatur
[1] P. Lepenies, The Power of a Single Number: A Political History of GDP, New York, 2016.
[2] N. Häring, Warum das BIP der falsche Indikator für Wohlstand ist, Handelsblatt (2019).
[3] J. Quitzau, Ist das BIP als Wohlstandsindikator noch zeitgemäß?, Capital (2019).
[4] S. Gössling and A. Humpe, The global scale, distribution and growth of aviation: Implications for climate change, Global Environmental Change 65 (2020) 102194.
[5] S. Lessenich, Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin, 2016.
[6] U. Brand and M. Wissen, Imperiale Lebensweise - Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München, 2017.
[7] E. Dickinson, GDP: a brief history, https://foreignpolicy.com/2011/01/03/gdp-a-brief-history/ last accessed 3 March 2022.
[8] Lepenies, The Power of a Single Number.
[9] Dickinson, GDP: a brief history.