Gerechte Verteilung statt Wirtschaftswachstum. Das Beispiel Lebenserwartung

 

Wir wissen bereits, dass endloses Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen unmöglich ist. In Zeiten von Massenaussterben und Klimawandel müssen wir noch dazu schnell sein. Wir brauchen eine schnelle Neuordnung und Transformation des Wirtschaftssystem zugunsten von Ökologie und menschlichem Wohlergehen. Nicht andersherum. Für die hypothetische Möglichkeit absoluter Entkopplung von materiellem Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum gibt es kein historisches Beispiel. Ein blindes Vertrauen darauf wäre also eine gefährliche Wette mit Menschenleben, wenn nicht gar mit dem Leben im Allgemeinen.


Wachstum und Lebenserwartung

Doch so, wie unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem aufgebaut ist, stellt uns dies vor massive Herausforderungen. Brauchen wir nicht Wachstum für menschliches Wohlbefinden, für Glück, Erfüllung und letztendlich für „Fortschritt“? Schließlich geht es den Menschen heute doch besser als vor einigen Jahrhunderten? Es ist ein einfaches und mächtiges Narrativ und steckt nicht nur in den Statistiken des Professors für Internationale Gesundheit Hans Rosling[1]. Wir haben die Botschaft kollektiv verinnerlicht: Die Lebenserwartung ist heute höher, die Ernährung und die Bildung besser, die Armut geringer. Für all das brauchen wir eine florierende Wirtschaft. Doch stimmt das wirklich?

Nehmen wir das Beispiel Lebenserwartung. Die durchschnittliche Lebenserwartung gilt allgemein als eine gute Kennzahl zur Bewertung menschlicher Gesundheit. Seit dem Jahr 1900 hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit mehr als verdoppelt und liegt heute bei über 70 Jahren. Auch heute haben wirtschaftlich erfolgreiche Länder tendenziell eine höhere Lebenserwartung als wirtschaftlich arme Länder. So liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in den reichsten Ländern der Welt bei über 80 Jahren. In der Zentralafrikanischen Republik lag sie im Jahr 2019 hingegen nur bei 53 Jahren[2].

In seinem Buch Less is More – How Degrowth will Save the World zeigt der Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel allerdings auf, dass der globale Kapitalismus für den Großteil seiner Geschichte keine sozialen Fortschritte hervorgebracht hat. Ganz im Gegenteil: Die Expansion des Kapitalismus basierte im Wesentlichen auf der Enteignung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, auf der Privatisierung von Gemeindeland und auf der Kolonisation des Globalen Südens. Auch basierte es auf der Verdrängung von Subsistenzökonomien, um die Menschen in den Arbeitsmarkt zu zwingen. Die miserablen Arbeitsbedingungen des Frühkapitalismus und die künstlich erzeugte Knappheit führten vielerorts gar zu sinkenden Lebenserwartungen[3]. Erst ab Ende des 18. Jahrhunderts begann die Lebenserwartung in Mitteleuropa schließlich zu steigen. In den ehemaligen Kolonien setzte der gleiche Trend erst wesentlich später, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, ein.

 

Es kommt auf die Verteilung an

Doch was, wenn nicht Wirtschaftswachstum, kann die massive Zunahme der Lebenserwartung dann erklären? Dies sei, so Hickel, primär auf eines zurückzuführen: Hygiene. Mitte des 18. Jahrhunderts fanden Wissenschaftler:innen heraus, dass sich die allgemeine Gesundheit mithilfe sanitärer Einrichtungen und der Trennung von Abwasser und Trinkwasser massiv verbessern ließ. All dies hängt jedoch vor allem von Investitionen der öffentlichen Hand ab[4]. Natürlich spielen darüber hinaus auch der Zugang zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung, zu Impfungen, zu sicheren Arbeitsbedingungen und zu sozialem Wohnungsbau eine Rolle. Doch keiner dieser Punkte wurde wie von Wunderhand durch Wirtschaftswachstum erreicht. Vielmehr wurde all dies von sozialen Bewegungen erkämpft und anschließend durch die öffentliche Hand finanziert.

Auch heute gibt es keinen kausalen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Lebenserwartung. Besonders beeindruckend ist dabei das Beispiel Costa Rica[5]. Costa Rica hat heute nicht nur eine Lebenserwartung von 80,3 Jahren[6], es hat auch eine der höchsten Alphabetisierungsraten, die Waldbedeckung beträgt mehr als 50 Prozent, über 99 Prozent seines Stromverbrauchs kommen aus erneuerbaren Energien[7] und beim Happy Planet Index lag es 2019 auf Platz eins[8]. Im Vergleich: In den USA beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung 78,9 Jahre und beim Happy Planet Index belegte das Land 2019 nur den 122. Platz. Und das, obwohl das Bruttoinlandsprodukt in den USA pro Kopf mehr als fünfmal höher ist als in Costa Rica[9]. Mit anderen Worten, auch der Material-, Ressourcen- und Energieverbrauch pro Kopf ist in den USA fünfmal höher. Wie wir in der nachfolgenden Grafik sehen, erzielte Costa Rica einige seiner größten Fortschritte bei der Lebenserwartung sogar zu Beginn der 1980er Jahre, zu einer Zeit, als die Wirtschaft des Landes überhaupt nicht wuchs[10]. Das Rezept dafür waren gezielte Investitionen in eine allgemeine Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem.

 

Lebenserwartung vs. Bruttoinlandsprodukt in Costa Rica und den USA

 
 

Unökonomisches Wachstum

Julia Steinberger und J. Timmons Roberts veröffentlichten 2010 einen Artikel, in dem sie den Zusammenhang zwischen Energieverbrauch, CO2-Emissionen und der Deckung menschlicher Bedürfnisse (unter anderem Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate und Einkommensniveau) untersuchten. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich all dies auch bei moderatem Energie- und Ressourcenverbrauch erreichen ließe. Ab einem bestimmten Punkt verbessert sich der Lebensstandard eines Landes nicht mehr. Im Gegenteil, die Relation kann sich sogar umdrehen[11]. Dann nämlich, wenn ungebremstes Wachstum die Ungleichheit erhöhen und die politische Stabilität gefährden. Wenn eine überarbeitete Gesellschaft kollektiv unter Stress, Schlaflosigkeit und Burn-Outs und unter gesundheitlichen Problemen wie Umweltverschmutzung und Diabetes leidet. Der Ökologische Ökonom Herman Daly bezeichnete Wachstum ab einem bestimmten Punkt deshalb als „unökonomisch“ und plädierte für eine sogenannte „Steady-State Economy“[12], im deutschsprachigen Raum auch als Postwachstumsökonomie oder stationäre Wirtschaft bekannt.

Theoretisch wäre der globale Material- und Energieverbrauch sogar bereits heute mehr als ausreichend, um Gesundheitsversorgung, Bildung und Wohlbefinden weltweit auf ein sehr hohes Niveau zu bringen. Wenn das gegenwärtige globale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Höhe von 10.919 US$ bei gerechterer Verteilung bereits ausreichend ist, um soziale Indikatoren weltweit zu verbessern, ließe sich die Wirtschaft reicher Industrienationen um ein vielfaches herunterskalieren. In den USA theoretisch gar um 83 Prozent[13], bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensumstände. Mit anderen Worten, es gibt keinen allgemeingültigen Zusammenhang zwischen Wachstum und Wohlstand. Es kommt auf die Investitionen in Gemeinschaftsgüter an, und deshalb vor allem auf die richtige Verteilung.



Literatur

[1] Hans Rosling, Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, München 2019.

[2] Max Roser/Esteban Ortiz-Ospina/Hannah Ritchie, Life Expectancy, October 2019, Ourworldindata (Zugriff: 25.02.2022).

[3] Jason Hickel, Less is more. How degrowth will save the world, London 2020.

[4] Ebd.

[5] Christiana Figueres/Tom Rivett-Carnac, The Future We Choose. The Stubborn Optimist's Guide to the Climate Crisis, London 2020.

[6] Roser/Ortiz-Ospina/Ritchie (Anm. 2).

[7] Energiezukunft, Costa Rica macht Tempo beim Klimaschutz, Berlin, energiezukunft (Zugriff: 25.02.2022).

[8] Happy Planet Index, The 2019 Happy Planet Index, Happy Planet Index (Zugriff: 25.02.2022).

[9] The World Bank, World Bank Open Data, Washington, The World Bank (Zugriff: 13.11.2021).

[10] Hickel (Anm. 3).

[11] Julia K. Steinberger/J. Timmons Roberts, From constraint to sufficiency: The decoupling of energy and carbon from human needs, 1975–2005, in: Ecological Economics 2/2010, S. 425–433.

[12] Herman E. Daly, From Uneconomic Growth to a Steady-State Economy, Cheltenham 2014.

[13] The World Bank (Anm. 9).