Anthropozän und Kapitalozän: das Zeitalter des Kapitalismus

 

„Willkommen im Anthropozän“. So lautete der Titel einer Ausstellung des Deutschen Museums in München, welche sich zwischen 2014 und 2016 mit „unserer Verantwortung für die Zukunft der Erde“ beschäftigte. Immer öfter steht bei Ausstellungen, Konferenzen, Bücher und Special Issues der Begriff des Anthropozän im Mittelpunkt. Dabei ist der Begriff keineswegs neu. Abgeleitet vom altgriechischen Wort „Anthropos“ (der Mensch), beschrieb der Geologe Antonio Stoppani bereits 1873 eine neue „Anthropozoische Ära“ beziehungsweise das „Anthropozoikum“ und nahm den Begriff des Anthropozäns gewissermaßen vorweg. Systematischer diskutiert und aufgegriffen wurde er jedoch erst, als der niederländische Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen und der Biologe Eugene F. Stoermer den Begriff in einem Newsletter des Internationalen Geosphären-Biosphären-Programms verwendeten. Zwei Jahre später veröffentlichte Crutzen den kurzen Artikel Geology of mankind in der Zeitschrift Nature: Seit Beginn der Industriellen Revolution sei der Mensch zu einer mächtigen geologischen Kraft geworden. Mit den zunehmenden Einflüssen des Menschen auf den Planeten sei das nach Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11.000 Jahren beginnende Holozän nun durch das Anthropozän abgelöst worden.[1] Der Begriff des Anthropozän bezeichnet also eine von den Menschen dominierte geologische Epoche. Der menschliche Fußabdruck sei nun so groß geworden, dass der Mensch als geophysikalische Kraft das Erdsystem als Ganzes verändere.[2]

 

Das Anthropozän als Diagnose: Es ist Zeit zu handeln!

Ab Beginn der 2000er Jahre brachten sich viele Wissenschaftler:innen, vor allem Naturwissenschaftler in die Diskussion ein. Kontroversen gab es in erster Linie um den Beginn des neuen Erdzeitalters. Begann dies mit der Kolonisierung der Amerikas, der Erfindung der Dampfmaschine und der Industriellen Revolution oder mit der Phase der „Großen Beschleunigung“ (der sogenannten Great Acceleration) ab 1950? Mehr Einigkeit gab es hingegen bei der mit dem Anthropozän-Begriff verbundenen Diagnose: Mit Kunststoffen und Mikroplastik, radioaktiver Strahlung, einer rasant zunehmenden CO2-Konzentration in der Atmosphäre und massiven Umwelteinflüssen hinterlasse der Mensch heute massive Spuren auf der Erde. Konkret zeigt beispielsweise eine Studie unter der Leitung des Klimawissenschaftlers Will Steffen den Zusammenhang zwischen zahlreichen sozio-ökonomischen Trends und Veränderungen des Ökosystems Erde. So kam es ab den 1950er Jahren zu einer dramatischen, teilweise exponentiellen Zunahme von Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum, Energie- und Wasserverbrauch, Düngemitteleinsatz und anderen sozialen und ökonomischen Trends. Demgegenüber stellen sie Veränderungen des Erdsystems, wie die Zunahme von Kohlenstoffdioxid und Methan in der Atmosphäre, die Versauerung der Ozeane und den Anstieg der Temperatur, und betonen damit wie die Menschen das Erdsystem in dramatischem Ausmaß verändern.[3]

Abbildung 1: Sozio-ökonomische Trends und Veränderungen des Systems Erde. Steffen et al. 2011

Die gleiche Diagnose spiegelt sich auch im Konzept der Planetaren Grenzen wider, das von einem Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Johan Rockström im Jahr 2009 erstmals veröffentlicht wurde. Gemeint sind dabei die ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten. Das Team definierte neun planetarische Grenzen, die vom Klima, der biologischer Vielfalt bis zur Versauerung der Ozeane reichen. Bei Überschreiten dieser Grenzen würde die Stabilität des Ökosystems Erde und letztendlich auch die Lebensgrundlagen der Menschen gefährdet.[4] Die zentrale Botschaft des Anthropozän-Begriffs lautet also: Es ist Zeit zu handeln!

 

Abbildung 2: Die erstmals von Rockström et al. (2015) verwendete Grafik wurde seitdem viel zitiert und aktualisiert. Quelle: Steffen et al. 2015

 

„Die Menschen“. Wer spricht hier eigentlich?

In den 2010er Jahren begannen auch die Sozialwissenschaften, sich zunehmend in die Debatte um das Anthropozän einzubringen. Während man der grundsätzlichen Diagnose durchaus zustimmte, wurden besonders die Aussagen in Bezug auf den Fußabdruck „der Menschen“ und der Handlungsimperativ zur Rettung „unseres“ Planeten kritisiert. Diese würden alle Menschen zu einem imaginären und homogenen „Wir“ werden lassen, bei dem Fragen der Verursachung keine Rolle mehr spielten. So stellt Jason Hickel fest:[5]

 
Die Länder mit hohem Einkommen sind die Hauptverursacher des globalen ökonomischen Zusammenbruchs. Der globale Norden ist für 92 Prozent der Emissionen verantwortlich (…), wohingegen die Folgen des Klimazusammenbruchs überproportional den Globalen Süden betreffen.
— Hickel 2021, S.1, eigene Übersetzung
 

Dies zeigen auch die Daten einer Studie von Lucas Chancel und Thomas Piketty. Auch wenn sich seit den 1990er Jahren die Ungleichheit hinsichtlich CO2-Emissionen zwischen den Ländern allmählich verringert, nimmt die CO2-Emissionen-Ungleichheit innerhalb einzelner Länder zu. Mit anderen Worten: Der Ausstoß von Treibhausgasemissionen ist in der Bevölkerung stark konzentriert. Die Top 10% der Emittierenden stoßen etwa 45% der gesamten Emissionen aus. Die unteren 50% tragen hingegen nur 13% zu den globalen Emissionen bei.[6]

Abbildung 3: Emissionen nach Weltregionen. Quelle: Chancel & Piketty 2015

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Begriff des Anthropozäns zwar die Macht des Menschen aufzeigt, jedoch verbirgt, wer und was mächtig ist und wie diese Macht ausgeübt wird.[7] Auf den naturwissenschaftlichen Definitionen aufbauend kam es somit zu zahlreichen Neuinterpretationen, Neurahmungen und, was Wissenschaftler:innen am liebsten machen, Wortschöpfungen. Begriffe wie Technozän rückten nun beispielsweise Technologien als zentralen Treiber von ökologischem und geologischem Wandel in den Fokus. Der Begriff des Plastizäns stellt die Anhäufung von Plastikmüll in den Mittelpunkt. Mit allerlei weiteren Begriffkreationen wie das etwas sperrige white-supremacy-cene (einfacher formuliert wäre es die ‚Vorherrschaft der Weißen‘), das Eurocene (anspielend auf den Eurozentrismus) oder das Corporatocene (das Zeitalter der Konzerne) wurde die Debatte zunehmend politisiert und die Frage der Verantwortlichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.[8]

 

Es ist das Kapitalozän!

In kritischen Kreisen konnte sich besonders der Begriff des Kapitalozäns etablieren. Grundlegende Überlegungen dazu stammen aus einer neo- beziehungsweise ökomarxistischen Perspektive. So stellt Elmar Altvater fest, dass alle wirtschaftlichen Prozesse einen doppelten Charakter haben. Einerseits handelt es um Prozesse der Aneignung von Land und Natur, und der Werttransformation. Andererseits handelt es sich immer auch um die Transformation von Rohstoffen und Energie, also die Formveränderung von Natur. Während Werte nach unendlichem Wachstum streben, sind letztere wie alles auf Erden endlich.[9] Das bedeutet, dass die kapitalistische Produktionsweise als ein hochgradig von der Natur abhängiger Verwertungsprozess zu betrachten ist.[10] In dem Versuch unendlich zu wachsen und Werte zu maximieren untergräbt die kapitalistische Produktion jedoch ihre eigene stoffliche Basis beziehungsweise ihre eigenen sozial-ökologischen Voraussetzungen.[11]

Die kapitalistische Produktionsweise verändert damit die Natur in einem historischen, nie dagewesenen Maße. Das Kapitalozän muss deshalb als kritische Reaktion auf den unpolitischen („die Menschen“) Begriff des Anthropozän verstanden werden. Es ist also nicht nur der Mensch – und „die Menschen“ schon gar nicht – der die ökologische Krise verursacht hat. Vielmehr resultiert die multiple Krise der Gegenwart in erster Linie aus der Kapitalakkumulation, und somit aus der spezifischen Gesellschaftsform des Kapitalismus. „Ohne den Kapitalismus gäbe es das Anthropozän nicht“, hält Altvater fest.[12] Während die Weltbevölkerung zwischen 1700 und 2008 um den Faktor 10 gewachsen ist, vermehrte sich die Weltwirtschaft um den Faktor 134.[13] Schaut man noch genauer hin, so lassen sich gar 63 Prozent der zwischen 1751 und 2010 ausgestoßenen Emissionen auf nur 90 Akteure (vor allem private und staatliche Unternehmen) zurückführen.[14]

Vor diesem Hintergrund eröffnen die Debatten um Anthropozän, Kapitalozän und die zahlreichen anderen erwähnten -zäns einen dringend benötigten Diskussionsraum. Naturwissenschaftliche Studien zum Anthropozän sind klar in ihrer Diagnose und zeigen, dass wir schnell handeln müssen. Gleichzeitig ist dieses „wir“ schwammig und unspezifisch. Wer spricht hier und wer soll hier eigentlich was tun? Die in diesem Beitrag aufgezeigte Politisierung der Diskussion ist deshalb ebenso richtig und wichtig. Sie differenziert nach Verantwortlichkeiten, beleuchtet Stimmen aus dem Global Süden, und eröffnet die Möglichkeit, Mensch-Umwelt Beziehungen neu zu denken.


Referenzen

[1] Paul J. Crutzen, Geology of mankind, in: Nature 23/2002, S. 23.

[2] Will Steffen et al., The anthropocene: from global change to planetary stewardship, in: Ambio 7/2011, S. 739–761.

[3] Ebd.

[4] Johan Rockström et al., Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity, in: Ecology and Society 2/2009.

[5] Jason Hickel, The anti-colonial politics of degrowth, in: Political Geography 2021, S. 102404, hier S. 1, eigene Übersetzung.

[6] Lucas Chancel/Thomas Piketty, Carbon and inequality: from Kyoto to Paris. Trends in the global inequality of carbon emissions (1998-2013) & prospects for an equitable adaptation fund, Paris 2015 (Stand: 2015).

[7] Jeremy Baskin, Paradigm Dressed as Epoch: The Ideology of the Anthropocene, in: Environmental Values 2015, S. 9–29, hier S. 16.

[8] Robert Hafner, The Anthropocene: Thought styles, controversies and their expansions. A review, in: DIE ERDE - Journal of the Geographical Society of Berlin 3/2022, S. 149–161.

[9] Elmar Altvater, Wachstum, Globalisierung, Anthropozän. Steigerungsformen einer zerstörerischen Wirtschaftsweise, in: Emanzipation 1/2013, S. 71–88, hier S. 73.

[10] Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster 2007.

[11] Kristina Dietz/Markus Wissen, Kapitalismus und "natürliche Grenzen". Eine kritische Diskussion ökomarxistischer Zugänge zur ökologischen Krise, in: Prokla 156/2009, S. 351–369, hier S. 357.

[12] Altvater (Anm. 9), S. 80.

[13] Christophe Bonneuil, Die Erde im Kapitalozän, in: Le Monde diplomatique, 12.11.2015.

[14] Richard Heede, Tracing anthropogenic carbon dioxide and methane emissions to fossil fuel and cement producers, 1854–2010, in: Climatic Change 1-2/2014, S. 229–241.