Das Entwicklungsmodell des Neo-Extraktivismus in Lateinamerika
Seit Beginn der europäischen Kolonisation ist der lateinamerikanische Kontinent von der Erschließung und Ausbeutung seines ökologischen Reichtums geprägt. Die Rolle Lateinamerikas als globaler Rohstofflieferant basierte zu Beginn der Kolonisation vor allem auf Eroberung und Zwang. Durch die internationale Arbeitsteilung und die Entwicklungsideen der klassischen Ökonomie festigte sich diese Rolle im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts. Die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas fokussierten sich zunehmend auf die Extraktion und den Export von natürlichen Rohstoffen.
Extraktivismus und Neo-Extraktivismus
Als „Extraktivismus“ lässt sich der umfangreiche Abbau fossiler, nicht-erneuerbarer Rohstoffe bezeichnen. Es handelt sich dabei um ein Akkumulationsmodell, das nicht nur auf Überausbeutung endlicher Rohstoffe basiert, sondern sich auch stetig auf bislang „unproduktive“ Gebiete ausweitet. Seine Grundannahme lautet, dass der Export von Rohstoffen eine notwendige Vorbedingung darstellt, um die daraus resultierenden Gewinne in die nationale Industrialisierung zu reinvestieren. Während des 20. Jahrhundert legitimierte diese Annahme die Erschließung und Ausbeutung von neuen – vermeintlich unberührten – Arealen.
Der Rohstoffreichtum und die Inwertsetzung (Erschließung, Ausbeutung und meist der Export) dieser Rohstoffe bildet somit die Entwicklungsstrategie Lateinamerikas. Dadurch wurde auch das koloniale Erbe des Kontinents stetig vertieft. Zudem förderten die strukturellen Anpassungsmaßnahmen der 1980er Jahre eine Phase der Neoliberalisierung und Privatisierung. Bis zur Jahrtausendwende führte der verstärkte Fokus auf den Export von Rohstoffen (also Waren des Primärsektors) zu einer ausgeprägten Re-Primarisierung vieler lateinamerikanischer Ökonomien.
Beginnend mit der venezolanischen Regierung unter Hugo Chávez, kam es ab 1999 in vielen Staaten zu einem politischen Umbruch. Neben Chávez zählen dazu gewöhnlich die Regierungen von Lucio Gutiérrez und Rafael Correa in Ecuador, Evo Morales in Bolivien, Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff in Brasilien, Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien sowie Tabaré Vázquez und José Mujica in Uruguay (mit einigen Einschränkungen ließen sich ebenfalls Michelle Bachelet in Chile, Ollanta Humala in Peru sowie Fernando Lugo in Paraguay dazu zählen). Diese Regierungen waren zwar sehr heterogen, sie identifizierten sich jedoch allesamt als progressiv oder links, wobei ich die Stärkung des Staates als kleinsten gemeinsamen Nenner bezeichnen würde. Der politische Umbruch wurde neben einer generellen Stärkung des Staates in vielen Fällen von sozialen (Umverteilungs-)Programmen zur Bekämpfung der Armut sowie in einigen Fällen auch der Verstaatlichung von Unternehmen – insbesondere im Ressourcensektor – begleitet. Dabei entwickelten sich Überschüsse aus Agrar- und Ressourcenexporten zur wirtschaftlichen Basis der sozialen Transferleistungen.
Obwohl die südamerikanische Linke den exportorientierten Ressourcenabbau zuvor stark kritisiert hatte, wurde die Primärgüterproduktion zur unabdingbaren Notwendigkeit eines exportorientierten Entwicklungsmodells. In vielerlei Hinsicht war dieser sogenannte „Neo-Extraktivismus“ eine Erfolgsgeschichte. So konnte beispielsweise in Brasilien die extreme Armut drastisch reduziert und die sozialen Lebensbedingungen sowie der Zugang zu Bildung verbessert werden. Doch durch die Umverteilung erhielt gleichzeitig auch der Naturverbrauch eine neue politische Legitimation. Die Überausbeutung der Natur bedroht wiederrum vielerorts die Existenzgrundlage der lokalen Bevölkerung. Besonders die indigenen Gemeinschaften, die am wenigsten von den wirtschaftlichen Vorteilen profitieren, sind von den negativen Auswirkungen betroffen.
Widersprüche des Neo-Extraktivismus
Der uruguayische Wissenschaftler Eduardo Gudynas bezeichnet den Neo-Extraktivismus auch als einen „capitalismo benévolo“, eine Art „wohlwollenden“ Kapitalismus. Ein Entwicklungsstil, welcher die Bedingungen des heutigen Kapitalismus akzeptiert, der Staat jedoch für eine Reihe von Korrekturen und Kompensationen negativer Aspekte einspringt. Armut und Ungleichheit sollen so durch Ausgleich bekämpft werden. Der Staat strebt also die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit durch die Umverteilung von Überschüssen an, gleichzeitig bleiben alle progressiven Regierungen in dem Ziel des Wirtschaftswachstums und einer Modernisierung nach westlichem Vorbild verhaftet.
Viele Forscherinnen und Forscher haben aufgezeigt, dass die zahlreichen zur Finanzierung von Sozialprogrammen notwendigen Extraktionsprojekte in der Regel von ausgeprägter ökologischer und sozialer Vulnerabilität geprägt sind und vielerorts zu neuen Konflikten zwischen Staat, Unternehmen und lokaler Bevölkerung führen (z.B. beim Lithium-Bergbau in den südamerikanischen Anden). Es entsteht als eine Art Teufelskreis. Neue Transferprogramme benötigen neue Extraktionsprojekte. Neue Extraktionsprojekte führen zur Verdrängung marginalisierter Bevölkerungsgruppen, wodurch neue Kompensationen notwendig werden. Die dem Neo-Extraktivismus zugrundeliegende Vorstellung von justice ist also auf eine rein ökonomische Dimension begrenzt.
Krise des Neo-Extraktivismus …und nun?
Aufgrund sinkender Nachfrage in schnell wachsenden Staaten wie China kam es ab 2010 zu einem kontinuierlichen Preisverfall an den Rohstoffbörsen. Mit dem Ende der hohen Rohstoffpreise rutschte der Neo-Extraktivismus, und nach und nach auch die progressiven Regierungen, zusehends in die Krise. Die Wahl rechts-konservativer Präsidentinnen und Präsidenten, darunter z.B. Mauricio Macri in Argentinien und Jair Bolsonaro in Brasilien, wurden Umverteilungsprogramme und Exportabgaben weitgehend gestrichen. Eine weitere Expansion extraktiver Projekte wurde indes jedoch nicht verhindert. Vielmehr ist die Praxis der Rohstoffextraktion für den Welthandel sowohl historisch als auch gegenwärtig tief in den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen des Kontinents verankert. Zwar stammen einige der vielversprechendsten grundlegenden Reformierungsideen zum Fortschritts- und Entwicklungsverständnis aus Lateinamerika, inwieweit diese jedoch durch die gegenwärtige Phase ultra-konservativer und ultra-populistischer Regierungen zunichtegemacht werden, bleibt vorerst abzuwarten.
Zum weiterlesen
Dieser Artikel basiert auf einem längeren Kapitel meiner Dissertation “Der Lithium-Rush. Lokale Extraktionsbedingungen im Kontext Globaler Produktionsnetzwerke in Nordwest-Argentinien”. Die Arbeit erscheint in Kürze auch in Buchform. Die Heinrich-Böll Stiftung hat zudem 2014 ein kurzes Überblicksvideo zum Thema Neo-Extraktivismus veröffentlicht.
Sehr empfehlen kann ich außerdem:
Brand, Ulrich (2016): Neo-Extraktivismus. Aufstieg und Krise eines Entwicklungsmodells. APuZ: Zeitenwende in Lateinamerika? - Bonn
Dietz, Kristina (2016): Erschöpft. Konflikte um Natur, Rohstoffausbeutung und Großprojekte in Lateinamerika. APuZ: Zeitenwende in Lateinamerika? - Bonn
Gudynas, Eduardo (2013): Die neue alte Entwicklungsstrategie Lateinamerikas: Der Extraktivismus und seine Folgen. In: Burchardt, Hans-Jürgen, Dietz, Kristina und Rainer Öhlschläger (Hrsg.): Umwelt und Entwicklung im 21. Jahrhundert. Impulse und Analysen aus Lateinamerika - Baden-Baden
Svampa, Maristella (2020): Die Grenzen der Rohstoffausbeutung. Umweltkonflikte und ökoterritoriale Wende in Lateinamerika - Bielefeld